Ich habe jetzt den ganzen Thread durchgelesen und mein spontaner Gedanke dazu war und ist, dass das alles echt kompliziert wirkt und ... irgendwie 'nen Knoten im Hirn macht.
Ich für mich habe die Gewissheit, dass ich mich überhaupt nicht verändere, völlig egal, welche Bezeichnung irgendwer dafür erfunden hat, wie ich fühle und lebe.
Als ich vor inzwischen 12 Jahren zum ersten Mal in die Situation kam, mich wirklich nicht entscheiden zu können, weil ich zwei Männer liebte und es auch nichts zu geben schien, da irgendeine "Lösung" zu finden, fand einer dieser beiden Männer im Netz das große Poly-Forum und verschwand oft stundenlang am PC um sich "mit Gleichfühlenden auszutauschen".
So verständlich das einerseits war, so sehr nervte es mich damals, denn wir hatten gerade in schonungsloser Ehrlichkeit eine bis dahin bestehende "Norm" zu sprengen gewagt und waren auf UNSEREM ganz speziellen Weg, unsere Lieben transparent (auch für die Kinder, die Familie, die Nachbarn und die Kollegen) zu leben.
Ich fand das wahnsinnig schön und richtig und ich fühlte mich total authentisch und wollte alles, nur keine "neue Schublade" und kein Wort, was das beschreiben sollte/ggf. könnte, was für mich so individuell war.
Auf das Wort "Polyamorie" reagierte ich total allergisch und ich erinnere mich sehr gut an zahlreiche Diskussionen darüber, warum sich Menschen gleich freiwillig wieder eine "Schublade" suchen, in die sie sich stecken, wenn sie doch gerade aus einer anderen "herausgekrabbelt" sind.
Beim Lesen (nicht nur dieser) Diskussion denke ich an diese Zeit und genau diese Gespräche.
Die Definition der Polyamorie gefiel mir in der Folgezeit zwar immer besser, aber gleichzeitig stellte ich beim Lesen im Forum (ich schaute meinem Partner dann doch mal über die Schulter
) fest, wie dehnbar doch war, was anfangs in meiner Wahrnehmung klar definiert zu sein schien. Wie individuell die Auslegung eines Begriffs ist - nämlich, genauso individuell wie die, die sich aus völlig unterschiedlichem Erleben heraus mit ihm beschäftigen...
So, wie ich "Polyamorie" definiere, habe ich sie 8 Jahre (aus-)gelebt. Ich habe aber auch vorher gar nicht so wesentlich anders gefühlt, denn es gab, schon bevor ich geheiratet habe, 2 Männer, die ich sehr liebte und das auch noch beim "Ja" im Standesamt.
Beziehungen hatte ich vor der Ehe mehr als zwei, aber diese beiden Männer liebte ich weiter, wobei ich mit dem Einen nie eine Beziehung hatte, denn der Mann, der die "erste große Liebe meines Lebens" war, ist schwul.
War meine Ehe, bevor sie 2006 durch eine weitere gelebte Liebe der Definition "polyamor" nahe kam, also nicht monogam?
Ich fühlte mich aufgrund der schon beim "Ja" zur Ehe empfundenen Liebe zu Weiteren nie als "Ehebrecherin" und stellte wegen dieser früher begonnenen Lieben, die eben nie enden, weder meine Treue in den folgenden 14 Jahren Ehe infrage, noch würde ich diese Jahre als "polyamor" bezeichnen.
Ich hatte "Treue" aber auch nie damit in Verbindung gebracht, dass mein Denken und Fühlen sich kontrollieren lassen müsste. Wie soll das auch gehen???
Gedanken und Gefühle sind frei - gehören mir - und so lange sie im Handeln keine Konsequenzen für meinen Partner haben, ist das absolut in Ordnung.
"Untreue" wird es - in meinen Augen - erst dann, wenn ich aufgrund meiner Gefühle etwas heimlich tue, was meinen Partner, würde er es wissen, verletzt.
"Untreu sein" beginnt für mich beim Vorspielen irgendeiner Rolle, wodurch ich einem Partner die Freiheit nehme, sich für oder gegen mich zu entscheiden, weil ich mich so verstelle, dass er keine Chance hat, mich zu sehen. DAS macht schon insofern keinen Sinn, dass mein Gegenüber mich doch nur dann lieben kann, wenn ich auch authentisch und ehrlich bin.
Nachdem ich 8 Jahre in polyamoren Verbindungen gelebt (Liebe auch in Form von Beziehungen ausgelebt) habe, lernte ich 2014 meinen heutigen Partner kennen, für den Polyamorie anfangs sehr verunsichernd war und der sich Exklusivität wünschte.
Ich ging diese Beziehung ein und erntete dafür aus dem Kreis derer, die für sich selbst "nie wieder mono" wollten wenig Verständnis. Viele sahen darin einen "Rückschritt aus der Freiheit, die ich doch 8 Jahre gelebt hatte".
Tatsächlich sehe ich seither eine Veränderung bzgl. des Bekanntenkreises.
Mir fehlt dieser echt tiefgründige Austausch, der in vielen Gesprächen, die ich früher mit lieben Menschen führte - und auch im im Miteinander empfundenen Sich-sehr-nah-Sein - bestand.
Dieser Freundeskreis bröckelte weg und das nicht, weil ich hier eine Tür zugemacht hätte, sondern, weil ich mich für eine exklusive Partnerschaft entschied und diese Menschen das nicht nachvollziehen konnten.
Das führte meinerseits zum Hinterfragen, was diese zuvor empfundene "Nähe" überhaupt war.
Eine Mogelpackung, weil ich mich für sowas durch das Bekenntnis zur Polyamorie erst "qualifiziert" hatte?
Dass heute kein Einziger derer mehr poly lebt, sondern auch der größte Verfechter der "mono ist Rückschritt"-Theorie sich in eine monogame Beziehung begeben hat, wirft weitere Fragen auf.
Ist poly also doch "eine Phase" oder "anders verpackte Bindungsangst"?
Ich hatte es nie bewusst so empfunden, aber...
Mein Fazit aus all dem ist, dass das Leben eben Leben - nicht vorhersehbar, oder wirklich bis ins Letzte planbar, sondern sehr individuell ist.
Dass jeder Mensch Sehnsüchte hat und alles Sortieren-wollen am Individuell-Sein vorbei geht.
Hinzu kommt, dass jeder Mensch sich ständig entwickelt und somit auch der Blick sich verändern kann. So ist bei meinem Partner heute das Verständnis dafür, dass man polyamor lieben kann, viel mehr gegeben, weil wir reden und er heute versteht, was speziell in meinem Fühlen Bedeutug hat.
Ich denke nämlich, dass JEDE Beziehung exklusiv ist, da sie immer 2 Menschen betrifft und nie wer mit wem Andren teilen kann, was in dieser Beziehung ist. Geht doch gar nicht.
Ob das nun mono- oder poly ausgelebt wird, entscheiden in der jeweiligen Situation die, die es betrifft, und das - je nachdem, was das Leben (an Begegnungen) bringt - ggf. immer wieder neu.
Wir leben in keiner Sackgasse.
Warum ist "Ich bin polyamor, lebe aber gerade aus irgendeinem Grund nur eine Beziehung und möchte bewusst keine Weitere" kein "Rückschritt" und wird als "Ich bleibe polyamor" gesehen und "Ich habe mich nach 8 Jahren polyamorer Beziehungen für EINEN monogamen Partner entschieden" überhaupt unterschiedlich?
Am Ende kommt das Gleiche raus, oder?
Dass ich das Lieben weiterer Menschen nicht abstellen kann, wie ich eine Lampe ausknipse, ist für mich menschlich und braucht keine Schublade - schon gar keine abschließbare.
Ob nun ein Poly sagt: "Ich bin momentan nur bereit für eine Beziehung", oder "Ich liebe einen Menschen, der sich eine exklusive Beziehung wünscht und entscheide mich für diese Liebe".... am Ende steht doch das Gleiche, nämlich verbindliche Zweier-Beziehung unter Berücksichtigung gerae aktueller Bedürfnisse und das ist gut, wenn es passt und sicher nicht abhängig davon, wie es formuliert wird.
Wenn ich die Tür vor weiteren Beziehungen schließe, kann ich mich noch so als "polyamor" bezeichnen und "viele im Herzen haben"... ich lebe EINE verbindliche Partnerschaft.
Der Unterschied dazu, diese exklusive Zweierbeziehung aus anderen Gründen - und im ehrlichen Dialog (auch über polyamores Fühlen) - zu führen, und das Ganze dann auch "mono" zu nennen, weil weitere Liebe nicht AUSGELEBT wird, erschließt sich mir nicht.
Liegt der Unterschied vielleicht im sich selbst nicht zugestandenen, empfundenen "Rückschritt", den offenbar der Ein- oder Andere in einer Zweierbeziehung zu sehen scheint?
ICH sehe es weder als Vor- noch als Rückschritt und auch nicht als "Käfig" oder als - warum auch immer suggerierte - "Sicherheit".
Leben... und gucken, was aktuell für die, die es teilen wollen, passt.
Eigentlich ganz einfach und dann ENDLICH frei von Schubladen.
DAS wäre, was für mich persönlich "befreiend und individuell" bedeutet.
Alles Andere steht in meinem Motto, denn ... wer kann schon sicher sagen, was morgen ist?